Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde – ein Portrait der MegaCity Sao Paulo

Update 10.11.2022

Eine steile Karriere, die der 1961 geborene brasilianische Autor Luiz Ruffato da hingelegt hat. Luiz Ruffato kennt die Verhältnisse der Arbeiterfamilien, denen er eine Stimme geben will, aus eigenem Erleben. Bereits im Alter von sechs Jahren half er seinem Vater Popcorn zu verkaufen, die Mutter war Wäscherin. Durch einen Gönner, dem Direktor einer Privatschule,  war es möglich, ein Studium abzuschließen als Journalist. Einer der ganz seltenen Fälle, dass ein Angehöriger der intellektuellen Elite in Brasilien von ganz unten kommt!

Literaturblog Luiz Ruffato
Luiz Ruffato, geb.1961

Der Autor beschreibt in Es waren viele Pferde die Megacity Sao Paulo, größte Stadt Brasiliens mit geschätzten 12 Millionen Einwohner(nur Kernstadt) an einem einzigen Tag, dem 9. Mai 2000 in Textstücken verschiedener Länge, ohne durchgehende Handlung, in verschiedenen Milieus und mit wie zufällig zusammengewürfeltem Personal.

Schon beim oberflächlichen Durchblättern des Buches fallen die verschiedenen Schriften und die wechselnden Seitenlayouts auf. Das Portrait eines Monstrums, eines Molochs von Stadt in einem Text von gerade mal 158 Seiten, das war eine literarische Herausforderung. In 69 Streiflichtern, mal in einem heftigen, wütenden Realismus, dann wieder zart, leise, mitfühlend beschreibt Luiz Ruffato das Alltagsleben der Menschen aus verschiedenen Perspektiven, meist aus der Sicht von Tagelöhnern, alleingelassenen Frauen, jungen Drogenkonsumenten, Kleinkriminellen oder Migranten.

Literatur im Rhythmus der Megacity

Manchmal sind die Schilderungen in einem sachlichen, fast teilnahmslosen Tonfall angelegt. Man spürt aus jedem Satz die Verunsicherung der Menschen, die Heimatlosigkeit in der Masse, der Nähe und Enge ausgeliefert, jeder Tag ein Projekt materiellen und seelischen Überlebens.

literaturblog Sao Paulo
Sao Paulo skyline;Quelle: wikimedia

Es sind starke Kontraste, die auf den Leser einwirken. Da lesen wir von Tagelöhnern, darunter Kinder, die früh am Morgen den Trampelpfad an der Landstraße entlanggehen-für den Bus haben sie kein Geld.

Der Junge ist zehn, elf Jahre alt, mager, sieht jünger aus. Er ist von der Schule gegangen und verkauft Hotdogs – mit Ketchup oder Mayonnaise – und Coca-Cola von der Firma, in der sein Vater arbeitet. Nachts versteckt er seinen Karren dort auf dem Gelände, die Nachtwächter passen auf. Wenn er groß ist, will er nach Brasilien aufbrechen, träumt er, und Lastwagenfahrer werden.

Und dann in einem anderen, ganz gegensätzlichen Bericht ist geschildert, wie ein Junge von seinem Vater in einem gepanzerten Mercedes von der Schule abgeholt wird und zum 12. Geburtstag ein Go-Kart geschenkt bekommt.

Die Sprache Luiz Ruffatos hat bisweilen geradezu etwas Vegetatives, sie wächst und wuchert nach allen Seiten und bricht doch manchmal mitten im Satz ab: es wird deutlich, wie immer man es anstellt: die Beschreibung dieser Stadt wird immer Stückwerk bleiben.

Die Alte, verhärmt, eingezwängt in den Sitz Nummer 3 im Bus Garanhuns-Sao Paulo schläft nicht…weiße Kühe im Grün der Weide, unfruchtbare Wolken, die Wäsche an der Leine zum Trocknen, Dörrfleisch, Erde, Erde, Erde, Wein, grünheiß der Tag, kaltblau der Abend, die Nacht mit ihren staubigen Sternen, die Welt, große Welt, die kein Ende nimmt, Oma bald sind wir, der Druck auf der Blase, die Bauchschmerzen, Rücken, Au!, Stufen, Ui!, die Beine, ohne Halt, Schau, Oma, die Lichter von Sao

Nüchterne Beschreibungen, Dialoge, Gesprächsfetzen und Biografieschnipsel werden in diesem Text in einer Weise aneinandergefügt und gegenübergestellt, welche die Schnittechnik des Films für die Literatur nutzbar machen will. Man ist an Dos Passos erinnert, der das in seiner U.S.A.-Trilogie zur Meisterschaft gebracht hat. Aber auch in der lateinamerikanischen Literatur wurde diese Montagetechnik schon in den Zwanziger Jahren durchaus angewandt. Überhaupt, wer stilistische und formale Neuerungen in der Literatur sucht und liebt, sollte sich öfter in spanisch-oder portugiesischsprechenden Regionen umsehen.  Vergleiche mit James Joyce, wie ich sie in Rezensionen gelesen habe, halte ich aber für unpassend, so kühne Neuerungen waren das keineswegs, außer dass sich das Geschehen an einem einzigen Tag abspielt. Gewiss ist aber, dass durch diese Arbeitsweise des Autors ein kaleidoskopartiges Panorama entsteht, das, wenn auch rational auflösbar, doch den Eindruck des schwindelerregenden Gewirrs des Stadtlebens vermittelt.

Schreiben für die Benachteiligten

Natürlich ist Luiz Ruffato parteiisch, er schreibt immer auch ein Stück seines eigenen Lebens mit. Ein Viertel der Einwohner Sao Paulos lebt in den irregulären Siedlungen, den Favelas, und es gibt natürlich besseren Wohnraum für den sogenannten Mittelstand und die Wohlhabenden. Auch ist Sao Paulo inzwischen die führende Kulturstadt mit bedeutenden Theatern, Konzertsälen, Konferenzen und Messen. Dies kommt im vorliegenden Buch nicht zum Ausdruck, Ruffato ist bei den Benachteiligten, bei denen, die träumen müssen und sich die Hoffnung bei Wahrsagern, Kirchen oder durch die Teilnahme bei Lotterien holen.

literaturblog Favelas
Favelas Sao Paulo

Und einer Gruppe von Menschen gilt die besondere Sympathie des Autors: den Müttern. Es sind die Frauen mit ihrer Kraft und Phantasie, sich zu organisieren und das öffentliche Leben zusammenzuhalten, hat man das Gefühl. Sie sind die kraftvolle Mitte der Clans, mit denen sich die Brasilianer mehr identifizieren als mit jedem staatlichen Gebilde. Explizit weist Luiz Ruffato darauf hin, dass der beschriebene Tag, der 9. Mai im Jahr 2000 vier Tage vor Muttertag gelegen ist. So mancher Sohn muss noch ein Geschenk „organisieren“- und nix in der Tasche- und die Mütter haben Angst, dass die Kinder auf die schiefe Bahn geraten könnten. 

Einzelne der im Text beschriebenen Szenen und Vorkommnisse hätten sicher genausogut an anderen Schauplätzen der Welt stattfinden können, aber die Mixtur, das lässt uns Ruffato glauben, die Gerüche, die Sprache, die Menschen mit ihren besonderen Erinnerungen und Träumen, und ihrer Art, das Leben zu bewältigen, das ist Sao Paulo: (Layout wie im Buch):

die soziale lage lässt mich nicht kalt die innenstadt ist nicht mehr wiederzuerkennen horden von straßenverkäufern taschendieben sandwichmen uringestank ölgeruch angereichert mit fährt mit der hand durch die kurzen haare(meine mutter trug handschuhe, hut, hohe absätze, um über den viaduto do cha zu flanieren, als ich ein kind war, spielte ich noch auf der) dies soll das land der zukunft sein? gott soll brasilianer sein? gestern noch ein naturparadies heute favela wo gestern eine schule stand ist heute ein knast wo gestern ein haus aus der jahrhundertwende stand sind heute drei wohneinheiten mit siebzig quadratmetern

Luiz Ruffato hat mit Es waren viele Pferde einen bemerkenswerten Debütroman geschrieben. Es war wirklich  ein Leseerlebnis mit vielen stilistischen und inhaltlichen Überraschungen. Man muss dem Verlag gratulieren, dass er dieses Buch, das im Original ja bereits 2001 erschienen war, in der hervorragenden Übersetzung von Michael Kegler herausgebracht hat.

 Aufmerksam darauf geworden bin ich durch die Literatur Hotlist der 10 besten Bücher der unabhängigen Verlage 2013. 

Außerdem stand es auf Platz 4 der Literatur BestenlisteFrühjahr 2013. 

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Cover: Es waren viele Pferde

Ruffato, Luiz : Es waren viele Pferde

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler

ISBN 978-3-86241-420-8 | 160 Seiten | gebunden | Auch als E-Book lieferbar

| erschienen Oktober 2012 | 18.00 € | lieferbar

Inzwischen schreibt Luiz Ruffato an einem fünfbändigen Werk Vorläufige Hölle, wovon die ersten 2 Bände bereits bei Assoziation A, Berlin,  erschienen sind.

:Michael Cunningham: In die Nacht hinein

Der 1952 in Cincinnati, Ohio, geborene Michael Cunningham, hat mit seinem in 22 Sprachen übersetzten Roman The Hours (deutsch: Die Stunden) 1999 den Pulitzer-Preis für Literatur erhalten, der 2002 auch mit einer Starbesetzung verfilmt worden ist. Michael Cunningham lebt heute in New York und unterrichtet Creative Writing am Brooklyn College.  In die Nacht hinein(By Nightfall) ist sein fünfter Roman. 

Literaturblog Literatur und Schreiben
Michael Cunningham (Quelle: David Shank)

Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang“

mit diesem wenig ermutigenden Hinweis Rilkes aus den Duineser Elegien stimmt uns Cunningham ein in das Geschehen, das uns in die zeitgenössische New Yorker Kunstszene führt, zum gutsituierten Ehepaar Rebecca und Peter Harris, beide um die Vierzig, residierend in einem standegemäßen Loft in Soho, Manhattan. Auf einer Hin-und Rückfahrt im Taxi zum Pflichtbesuch einer Party erfährt man sogleich die markanten Umrisse der Lebensumstände des Paares. Rebecca, die Redakteurin eines Kunst-und Kulturmagazins und Peter, der Galerist moderner Kunst,  erwarten den Besuch von Rebeccas kleinem, fast zwanzig Jahre jüngeren Bruder Missy, der gerade vom Meditieren aus Japan zurückgekommen ist, ein Drogenproblem hat und jetzt auch „Irgendwas mit Kunst“ machen will. Peter, aus dessen alleiniger Perspektive die Handlung aufgebaut wird, beschreibt die Stimmungslage selbst:  „:Michael Cunningham: In die Nacht hinein“ weiterlesen

Juan Goytisolo: Das Manuskript von Sarajevo

Die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo von 1992 bis 1996 war eine der längsten in der Geschichte der Kriegsführung. Etwa 12000 Menschen, meist Bosnier, aber auch Serben, Kroaten und andere, darunter viele Frauen und Kinder,  starben unter dem Bombenhagel serbischer Terroristen.

Als das vorliegende Buch 1995 in Spanien erschien, dauert die Belagerung noch an. Der 1931 in Barcelona geborene Juan Goytisolo war einer der wenigen Schriftsteller, die dem Aufruf Susan Sontags  an die Künstler aller Welt gefolgt waren, sich in die Stadt zu begeben, um der furchtbaren Lage der Bevölkerung weltweit mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Juan Goytisolo, in Deutschland weit weniger  bekannt als seine Schriftstellerkolleg(inn)en Jorge Semprun, Javier Marias, Raffael Chirbes, Rosa Montero oder Carlos Ruiz Zafon o.a., war damals  in Spaniens Literaturbetrieb längst etabliert. 

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Juan Goytisolo Quelle: diepresse.com

Der Roman Das Manuskript von Sarajevo  führt uns in der belagerten Stadt zunächst ganz realistisch in eine Szenerie, die einem Kriminalfall ähnlich abzulaufen scheint: Ein mysteriöser ungefähr 60 Jahre alter Mann, vermutlich Spanier, stirbt,  als das Hotel in dem er abgestiegen ist, von Mörsergranaten getroffen wird. Ein spanischer Kommandant der Internationalen Vermittlungstruppen wird damit beauftragt, die entsprechenden Untersuchungen einzuleiten und die erforderlichen Formalitäten zu erledigen. Es folgen insgesamt 5 Berichte des Kommandanten, die ein vom Autor eingeführter Kompilator  zusammengestellt hat, dazwischen eingestreut Traumberichte, Berichte von einem belagerten Bezirk in Paris, Gedichte. Manche dieser Texte könnten auch alleine stehen und haben keinen direkten aktuellen Bezug zum Geschehen in Sarajewo. Der Kommandant muss zunächst erkennen, dass der Leichnam verschwunden ist, neben ein paar Reiseutensilien sind nur ein grünes Heft mit handschriftlichen Eintragungen und dem Kürzel „J.G.“ (Autor?), sowie maschinengeschriebene Manuskripte  aufzufinden; verschwunden ist, obwohl an der Rezeption abgegeben,  auch der Reisepass. Als Leser ist man erstaunt, dass die Berichte des Kommandanten in einer ausgesprochen anspruchsvollen Ausdrucksweise erfolgt, nicht etwa in einem pragmatischen, militärischen Berichtsstil. So schreibt er im ersten Bericht:

Meinerseits werde ich eine erste Bewertung der maschinenschriftlichen Texte und Gedichte vornehmen, in der Hoffnung, dass sie die Identität des Verstorbenen oder Verschwundenen sowie die Motive für seine unter größter Lebensgefahr unternommene Reise in diese Republik aufklären helfen.

Die Nachforschungen ergeben weiter, dass sich kein Spanier für einen Flug angemeldet hat oder jemand, der von seinem Äußeren und Alter der bewussten Person entsprach. 

Zu den Initialen „J.G“. schreibt der Kommandant in seinem zweiten Bericht:

In unserem Land, so sagte ich zu einem Beamten aus dem Innenministerium, sind sie so zahlreich wie die Vögel am Himmel und die Fische im Meer: eine Liste allein mit allen Juan Perez und Jose Gonzales würde schon das Einwohnerverzeichnis einer Stadt von der Größe La Corunas füllen.  Und weiter:

Schon eine erste Durchsicht der Gedichte des geheimnisvollen „J.G.“ lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um eine homosexuelle Person handelt. Die Verse, über deren möglichen ästhetischen Wert ich mich eines Urteils enthalte, führen eine Reihe von Bildern und Handlungen vor, die unter der Maske einer sibyllinischen und raffinierten Sprache nichts als dreiste Verherrlichungen des Lasters sind. 

Erstaunt ist man als Leser zunächst, als in weiteren Texten plötzlich Paris als Schauplatz auftaucht, denn Goytisolo vergleicht die Lage der arabischen und farbigen Einwandererfamilien in Frankreich mit einem Belagerungszustand. Ausgeliefert, hilflos den Vorurteilen, Anschuldigungen und Übergriffen von fremdenfeindlichen Einheimischen. Auch ausgeliefert den staatlichen Institutionen, die oft aus wahltaktischen und populistischen Motiven Druck ausüben. Der Autor entwirft ein Szenario, in dem „ethnische Säuberungen“ durchgeführt werden, einen „Belagerten Bezirk“, in dem Ausländer und Landfremde keinerlei Rechte und Freiheiten mehr haben.

Stellvertretend für die anderen Ausgegrenzten ruft der „Defäkator“:

Ja, wir sind Kot, Fäkalien, eine Beleidigung für Aug und Nase der schönen Menschen. Von ihren Labors und Industrien verseucht und verstrahlt, taugen wir nicht einmal als Düngemittel für Ihre Felder. Unter dicken Betonblöcken werden sie uns begraben müssen, damit wir nicht ihr Wasser, ihre Erde und ihre Luft verderben….

Offenbar glaubt der Autor nicht, dass die Problematik in einer linearen,  realistischen Weise dargestellt werden könnte. Juan Goytisolo vervielfältigt gewissermaßen das Thema in eine absurde, mit beißender Ironie gespickte Landschaft; auch eigene autobiographische Erfahrungen fließen mit ein, schließlich hat er sich unter Franco, auch wegen seiner öffentlich gemachten Homosexualität selbst als Belagerter und Ausgegrenzter empfinden müssen. Seine Bücher waren verboten, er musste ins Exil nach Paris und später  nach Marrakesch, wo er heute noch zeitweise lebt.

Schließlich muss neben dem Leser auch der Kommandant aufgeben in seinen Bemühungen, eine vernünftige Erklärung für die Vorfälle zu finden, er verzettelt sich so, er verzweifelt,  dass er sogar in eine Psychiatrische Klinik eingeliefert wird. Als Leser fühlt man sich, als sei man in eine Falle getappt.

Am stärksten beeindruckt und zum Nachdenken gebracht hat mich ein Abschnitt des Büches, überschrieben mit Der Todfeind:

Die Nationalbibliothek war von Brandraketen getroffen worden und, abgesehen von ihrer neomaurischen Fassade aus österreichischer Zeit, nichts als ein trauriger Trümmerhaufen. Einer der jetzt arbeitslosen Historiker, dessen Wohnung von Granaten getroffen wurde, entdeckt durch das Loch in der Wand in einem gegenüberliegenden Gebäude, nur etwa hundert Meter entfernt über dem Fluss, einen maskierten Heckenschützen, der ihn im Visier hat. Warum ausgerechnet ihn und nicht einen anderen, fragt er sich:

Einer Legende zufolge, die er als Kind gelesen hatte, wird jedem Menschen genau in dem Augenblick, da seine Mutter mit ihm niederkommt, auch sein virtueller Feind geboren. Dieser kann auf einem anderen Kontinent zur Welt kommen, anderer Rasse und anderen Geschlechts sein, das Licht der Welt auf der anderen Seite der Erdkugel erblicken. Keiner weiß von der Existenz des anderen, dem unversöhnlichen Hass, der sie aneinanderkettet, es sei denn, ein unglücklicher Zufall führt sie zusammen. 

Es treten fast paradoxe Gefühlen und Einsichten auf:

Die konzentrierte Aufmerksamkeit, die der Unbekannte ihm zuteil werden ließ, begann ihm sogar zu schmeicheln. Tag und Nacht war sein Todfeind ihm zu Diensten, widmete ihm gewissenhaft seine Zeit, richtete sein Leben nach ihm wie ein besorgter Liebender….

Auch der Todfeind musste essen, auf Toilette gehen, schlafen.  Das gab Raum, durchzuatmen, aber keinen Raum, wirklich zu leben.  Das Territorium seiner einstigen Wohnung, das er noch bewohnen konnte und das nicht einzusehen war, war zusammengeschrumpft auf ein paar Quadratmeter. Sein einziger Daseinszweck: sich nicht in die Schusslinie zu begeben.

Ein Zweifel nagte an ihm: bedeutete dieser Zustand wechselseitigen Sich-Ergänzens auch Gegenseitigkeit der Gefühle? Konnte der eine ohne den anderen leben, oder waren ihre Schicksale, wie die Legende es wollte, untrennbar miteinander verknüpft?

Fragen, die man sich stellt, wenn die bisherige Lebenswelt sich durch äußere Umstände verbraucht oder erschöpft hat. Und die Flucht in den Traum lebenswichtig wird. 

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Nationalbibliothek Sarajevo vor der Bombardierung Quelle: BR-Eldina Jasarevic

 Unbedingt zu erwähnen ist  des Autors Schilderung  der  Bombardierung der Nationalbibliothek, er spricht  von Memorizid, etwa 3 Millionen Bücher und Dokumente aus der multiethnischen Geschichte Bosniens gingen in Flammen auf. Durch die Bombardierung der Bibliothek haben das Land und die Stadt einen wichtigen Teil ihrer kulturellen Identität verloren. Die Asche tausender Bücher -die schwarzen Vögel von Sarajevo-schwebte tagelang über der Stadt. Der als Cellist von Sarajevo bekanntgewordene Musiker Vedran Smajlovic spielte in den Ruinen. 

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Vedran Smajlovic spielt in den Ruinen der Nationalbibliothek Quelle: Wikipedia

Es war klar, dass sich nach meiner euphorischen Lektüre von Antonio Lobo Antunes‘ Die Vögel kommen zurück jedes Nachfolgebuch schwer haben würde in meiner  Beurteilung. In dem Roman  Das Manuskript von Sarajevo oder besser: der Textsammlung, die sich Roman nennt, bringt Juan Goytisolo für meinen Geschmack allzu häufig seine persönlichen politischen Bekenntnisse unter, seine Anklage gegen Westeuropa über dessen zögerliche Politik, oder gegen die USA, die dem serbischen Aggressor nicht mit Waffengewalt gegenübertrete. Bei vielen Anspielungen oder Verweisen aus der arabischen Mystik musste ich zugegebenermaßen passen, obwohl einiges nachzuschlagen war. Seine Affinität zur arabisch-islamischen Welt ist deutlich zu spüren, Juan Goytisolo gilt als Pendler und Vermittler zwischen den Kulturen und tritt vehement  islamophoben Tendenzen entgegen.

Der englische Titel des Buches State of Siege passt m.E. besser zum Inhalt des Buches, weil Juan Goytisolo wie beschrieben Außenseiter, Fremde, Flüchtlinge, Menschen anderer Hautfarbe und kultureller Herkunft in aller Welt in einem Zustand der Belagerung sieht. 

Neben vielen anderen Preisen  zuvor,  erhielt Juan Goytisolo 2014 den Cervantes-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung in der spanischsprachigen Welt.

Cover Literaturblog
Das Manuskript von Sarajevo Cover

Das Manuskript von Sarajevo, Suhrkamp Verlag, 191 Seiten. Übersetzung von Thomas Brovot, ISBN: 978-3518410479, € 18,99

Weiterführende Literatur:

Der kanadische Autor Steve Galloway veröffentlichte 2008 den Roman Der Cellist von Sarajevo:  btb, 240 Seiten, Taschenbuch, Broschur,  11,8 x 18,7 cm, ISBN: 978-3-442-73892-2, € 9,95

Eine Zusamenfassung weiterführender Literatur gibt es bei www.tour-literatur.de

Juan Goytisolo fuhr im Schützenpanzer in die Stadt Sarajewo. Auf Deutsch erschienen seine Eindrücke der Belagerung als realer Bericht unter dem Titel Notizen aus Sarajewo 1993, edition suhrkamp 1899, Broschur, 140 Seiten, ISBN: 978-3-518-11899-3, € 6,99. Die Übersetzung besorgte Maralde Meyer-Minnemann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Welt feiert Dylan Thomas

100.Geburtstag eines Literatur-Weltstars

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Der Dichter Dylan Thomas

In England, USA und weltweit wird der Literatur-Klassiker Dylan Thomas als Dichter gefeiert und heute an seinen 100. Geburtstag erinnert. In Deutschland ist der Dichter wohl eher nur Literaturliebhabern näher bekannt; auf jeden Fall gebührt ihm ein Essay in meinem LiteraturBlog.

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Geburtshaus des Dichters Dylan Thomas in Swansea

Am 27. Oktober 1914, 87 Tage nach Kriegsbeginn, wurde Dylan Thomas in der zweitgrößten walisischen Stadt Swansea geboren. Er war das jüngste Kind. Sein Vater war Lehrer für Englisch am Gymnasium Swansea, das mag mit ein Grund gewesen sein, warum der junge Dylan früh seine Liebe zur Literatur entdeckte und bereits im Alter von vier Jahren Shakespeare und Marlowe rezitierte. Und mit acht Jahren schrieb er seine ersten Gedichte.

Am Gymnasium wurde er nicht nur mit den Literatur-Klassikern, sondern auch mit zeitgenössischen Texten konfrontiert. Und er war ein genauer Beobachter seiner Umwelt, was in vielen Erzählungen belegt ist.

„Die Seestadt war meine Welt. Außerhalb ging ein fremdes Wales, kohlenzergraben, gebirgig, flußdurchlaufen und meines Wissens voll von Chören und Schafen und hohen Geschichtenbuchhüten, seinen Geschäften nach, die mich nichts angingen.“

Erste Erfolge im Schreiben

1925 veröffentlichte eine Schülerzeitung, deren Chefredakteur er 1930 wurde, eines seiner Gedichte, worauf Dylan Thomas sehr stolz und was ihm Ansporn war. Das Schreiben war seine Passion geworden und nach einem mäßigen Schulabschluss wurde er ab 1931 Reporter bei Lokalzeitungen. Seinen wahren Ehrgeiz aber widmete er seinen Gedichten. Die Jahre zwischen 1931 und 1934 gehören zu den fruchtbarsten Phasen im gesamten Schaffen des Dichters.

1933 veröffentlicht die New English Weekly sein Gedicht „And death shall have no Dominion“ und kurz darauf gewannen zwei seiner Gedichte den ersten Preis eines Sonntagmagazins.

And death shall have no Dominion

And death shall have no dominion.
Dead man naked they shall be one
With the man in the wind and the west moon;
When their bones are picked clean and the clean bones gone,
They shall have stars at elbow and foot;
Though they go mad they shall be sane,
Though they sink through the sea they shall rise again;
Though lovers be lost love shall not;
And death shall have no dominion.

And death shall have no dominion.
Under the windings of the sea
They lying long shall not die windily;
Twisting on racks when sinews give way,
Strapped to a wheel, yet they shall not break;
Faith in their hands shall snap in two,
And the unicorn evils run them through;
Split all ends up they shan’t crack;
And death shall have no dominion.

And death shall have no dominion.
No more may gulls cry at their ears
Or waves break loud on the seashores;
Where blew a flower may a flower no more
Lift its head to the blows of the rain;
Though they be mad and dead as nails,
Heads of the characters hammer through daisies;
Break in the sun till the sun breaks down,
And death shall have no dominion.

Deutsche Fassung( Übersetzung Erich Fried) :

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die nackten Toten die sollen eins
Mit dem Mann im Wind und im Westmond sein;
Blankbeinig und bar des blanken Gebeins
Ruht ihr Arm und ihr Fuß auf Sternenlicht.
Wenn sie irr werden solln sie die Wahrheit sehn,
Wenn sie sinken ins Meer solln sie auferstehn.
Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Die da liegen in Wassergewinden im Meer
Sollen nicht sterben windig und leer;
Nicht brechen die die ans Rad man flicht,
Die sich winden in Foltern, deren Sehnen man zerrt:
Ob der Glaube auch splittert in ihrer Hand
Und ob sie das Einhorn des Bösen durchrennt,
Aller Enden zerspellt, sie zerreißen nicht;
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.
Keine Möwe mehr darf ins Ohr ihnen schrein
Keine Woge laut an der Küste versprühn;
Wo Blumen blühten darf sich keine mehr regen
Und heben den Kopf zu des Regens Schlägen;
Doch ob sie auch toll sind und tot wie Stein,
Ihr Kopf wird der blühende Steinbrech sein,
Der bricht auf in der Sonne bis die Sonne zerbricht,
Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.

 

1934 zieht Dylan Thomas nach London um und veröffentlicht weiter in verschiedenen Zeitschriften. Im Dezember erscheint sein erstes Buch mit dem bescheidenen Titel 18 poems.

 1936 werden „Twenty-five Poems“ veröffentlicht mit einer sehr guten Resonanz.1937 heiratet Dylan Thomas Catlin McNamara. 1938 zieht das Ehepaar Thomas zurück nach Wales, in die kleine Küstenstadt Laugharne.

1939 erscheint „The World I Breathe“ in den USA. „The Map of Love“ wurde ebenfalls noch 1939 in England veröffentlicht, wurde aber ein Misserfolg, die Buchindustrie lag bei Kriegsausbruch am Boden, Papier war rationiert, die Menschen hatten keinen Sinn für Literatur. 1940, nachdem er der Einberufung entgangen war, wurde er Mitarbeiter der BBC und der Standard Films of Golden Square. Er verwirklichte Diskussionsrunden, Funkessays, Literaturbesprechungen, verfasste sogar Drehbücher für Dokumentarfilme.

Seine Popularität steigt ständig, privat gibt es aber eheliche Krisen, beide können nicht mit Geld umgehen. Dylan Thomas arbeitet regelmäßig, trinkt aber krankhaft. 1947-48 arbeitet er an diversen Filmskripts, besucht 1949 den kommunistischen Schriftstellerkongress in Prag und 1950 wird ein Traum für ihn wahr: mit finanzieller Unterstützung einer Wohltäterin und Sponsorin kann er in die USA übersiedeln, wo er insgesamt drei Vortragsreisen unternimmt, maßgebliche Leute des Literaturbetriebs kennenlernt und wie ein Star gefeiert wird. Bei Vielen galt er als der größte lebende Dichter. Under the Milkwood wurde uraufgeführt und sogar Strawinsky wollte von ihm das Libretto für eine Oper. 1952 hatte er mit seiner Frau im berühmten Chelsea Hotel von Manhattan ein Appartement gemietet, sie gaben ihr Geld beidhändig aus und zogen nachts durch die Bars.

Literatur Blog
Stammlokal vieler Künstler in Manhattan

Insbesondere in der White Horse Tavern, die sich bis heute gehalten hat, waren sie Stammgäste. Dylan Thomas und seine Frau verkehrten dort mit Persönlichkeiten der Literaturszene wie James Baldwin, Norman Mailer und Anais Nin. Seine Trinkeskapaden nahmen im November 1953 ein jähes Ende, als er in ein Koma fiel und schließlich im Chelsea Hotel verstarb.

Immer wieder wird Dylan Thomas mit dem französischen Schriftsteller Rimbaud verglichen. Wie dieser hatte er Neues in die Lyrik eingebracht, surrealistische und symbolistische Elemente, auch Einflüsse seiner dichterischen Vorfahren band er mit ein. Es sind dichte Verse und Geschichten voller lebensprallem Gehalt und fremdartig schönen Bildern.

Sein weltweit bekanntestes Werk, Under the Milkwood, beginnt so: „Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz. die Kopfpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zu schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See.“

In den USA vor allem wird er oft als „Romantic Poet“ bezeichnet, ich denke das trifft es nicht umfassend wegen seiner eher expressionistischen Bilder, überhaupt lässt er sich kaum zu einer Richtung oder Gruppe zuordnen.  „Ich werde von Tag zu Tag obskurer…“, sagt er über sein Schreiben. Seine leidenschaftliche Ergriffenheit für das Schreiben hat uns Einzigartiges hinterlassen. Wie bei sogenannten Stars heutzutage üblich, hat auch sein Lebenswandel als Bohemien und sein früher Tod mit zu einer Art Heldenverehrung beigetragen, was aber immer bleibt ist die Einmaligkeit seiner Verse und Geschichten. Er zieht alle Register der Dichtkunst in einer schwierigen Zeit, und: er will uns nicht bevormunden mit sogenannten unumstößlichen Wahrheiten und Botschaften.

Zum Abschluss dieser Würdigung mein Lieblingsgedicht von Dylan Thomas, an seinem 100. Geburtstag:

 

Dylan Thomas, 1914 – 1953

 

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

 

Though wise men at their end know dark is right,

Because their words had forked no lightning they

Do not go gentle into that good night.

 

Good men, the last wave by, crying how bright

Their frail deeds might have danced in a green bay,

Rage, rage against the dying of the light.

 

Wild men who caught and sang the sun in flight,

And learn, too late, they grieved it on its way,

Do not go gentle into that good night.

 

Grave men, near death, who see with blinding sight

Blind eyes could blaze like meteors and be gay,

Rage, rage against the dying of the light.

 

And you, my father, there on the sad height,

Curse, bless, me now with your fierce tears, I pray.

Do not go gentle into that good night.

Rage, rage against the dying of the light.

 

 

deutsche Fassung(Übersetzung Wolfgang Hilbig)

Steige nicht sanft in dieses gute nichts,

das alter soll brennen, heulen vorm dunkel der nacht;

Rase, rase wider das sterben des lichts.

Wenn auch die weisen des dunkels rechte ansieht

wissen am end, da worte keinen blitzstrahl aufgebracht,

Sie steigen nicht sanft in dieses gute nichts.

Gute Menschen, nach letzter flut, die schreie glänzend bricht:

Ihr schwache kraft, die tanzen könnt in grüner bucht,

Raset, raset wider das sterben des lichts.

Ihr freien besangt, zu fassen, der sonne verfliegend gesicht,

Verstandet zu spät, des wegs, wo euch der gram gesucht,

Ihr steigt nicht sanft in dieses gute nichts.

 

Der todgeweihten würde, ihr augenlicht blind und verwischt

konnt flammen, meteoren gleich in fröhlicher pracht;

Raset, raset wider das sterben des lichts.

Und dir, mein vater, zur traurigen höhe flehe ich,

Fluch mir, segne mich nun, mit den tränen, stürmisch erwacht.

Steige nicht sanft in dieses gute nichts,

Rase, rase wider das sterben des lichts.

Literatur Blog
Grab des Dichters in Laugharne

 

 

Rezension:Bert Brecht: Frühe Tagebücher

Beeinflusst von einer gründlichen schulischen Überdosierung, nehme ich an, ist eine weiterführende Brecht-Lektüre bei mir lange auf Eis gelegen. Seine frühen Tagebücher, die ja erst in den Achtzigern öffentlich wurden, kamen mir beim Stöbern in der Stadtbibliothek in der hervorragend kommentierten Gesamtausgabe von 1994 in die Hände — und dies wurde jetzt doch ein größeres Leseprojekt als gedacht, denn wie wäre das Tagebuch zu verstehen, ohne seine Stücke Baal, Trommeln in der Nacht und  Im Dickicht der Städte zu kennen , mit denen sich der junge Brecht  nach dem ersten Weltkrieg herumschlug.

Brecht Literaturblog
Der junge Brecht in Augsburg

Die Eintragungen in Tagebüchern beginnen im Mai 1913, als Eugen Berthold Brecht als 15-Jähriger das Kgl. Bayerische Realgymnasium in Augsburg besuchte. Gleich in den allerersten Eintragungen ist zu lesen: Habe wieder Herzbeschwerden… Mein Herz ist sehr rebellisch. Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst. Der Junge leidet zeitlebens an einer Herzneurose,  ist in Kur mit seiner Mutter, die ebenfalls früh kränklich ist, in Bad Steben. Sein Vater, der sich hochgedient hat aus einfachen Verhältnissen zum Direktor einer Papierfabrik, erkrankt ebenfalls schwer. Dies alles hält der junge Eugen fest. Die Gedichte, die er einstreut, befasssen sich neben jahreszeitlichen Einträgen mit biblischen Themen, z.B. Judas Ischariot, Emaus, Gethsemane. Er arbeitet bereits an Dramenentwürfen und es gibt im Gedicht Arbeiter schon Hinweise auf eine sozialkritische Haltung und Sympathie mit den Proletariern; die Brechts wohnten  in Augsburg ja auch in einer Arbeitersiedlung der väterlichen Firma.   Brecht ist einer der Mitbegründer der Schülerzeitung Die Ernte und 1914 im Alter von 16 Jahren erscheint sein erstes Gedicht in den Augsburger Neueste Nachrichten, noch unter dem Pseudonym Berthold Eugen. Viel vaterländisch Gereimtes, viel Expressionismus noch. Die verfehlte Pädagogik dieser Zeit mit eindeutig deutsch- nationalem Einschlag zeigte seine Wirkung.

 

 Vorbilder: Die poetes maudits

 

Als der nächste große Abschnitt des Tagebuches einsetzt, Juni 1920,- der Krieg ist vorbei-, ist Brecht als Student der Medizin in München immatrikuliert. Er ist inzwischen Vater eines nach Wedekind benannten Sohnes Frank, den man im Allgäu versteckt aufwachsen lässt, um der Mutter Paula Banholzer die „Schande“ in Augsburg zu ersparen. Er hat das Stück Baal fertiggestellt und überarbeitet gerade Trommeln in der Nacht

Früh zeigt sich, dass Brecht nichts dem Zufall überlässt und nicht gewillt ist, für die Schublade zu schreiben. Nachdem er bereits in der Tageszeitung publiziert hat, fühlt er sich wie ein erwachsener Autor und mit entsprechender Arroganz betrachtet und beurteilt er seine Umwelt.

Wie mich dieses Deutschland langweilt! Es ist ein gutes mittleres Land, schön darin die blassen Farben und die Flächen, aber welche Einwohner! Ein verkommener Bauernstand, dessen Rohheit aber keine fabelhaften Unwesen gebiert, sondern eine stille Vertierung, ein verfetteter Mittelstand und eine matte Intellektuelle!  

Brecht liest Francois Villon, Rimbaud, Verlaine und er verehrt Frank Wedekind. Er will noch wilder dichten als diese. Er ist kein Bewohner des Elfenbeinturmes, in den letzten zwei Kriegsjahren trägt er seine Lyrik  buchstäblich auf die Straße. Mit Lampions zieht die Brecht-Clique zum Schrecken vieler Bürger um die Häuser, durch die Vorstadtkneipen mit Liedern und Balladen zur Klampfe. 

Er ist geheilt vom vaterländischen Taumel und Schwindel nachdem er in einem Lazarett als Sanitätssoldat Dienst getan hat und die Fronterlebnisse der Kameraden mit anhören musste. Er möchte nah an den Menschen sein, keinen Ideologien oder Theorien anhängen,  geht auf Volksfeste in Augsburg und München: Immer streune ich abends übern Plärrer, der einem seine Negermusiken mit Keulenschlägen eintreibt: Man bringt sie nachts nimmer aus den Hautfalten. Brecht scheint von seinem Genie voll überzeugt,  bespricht seine Entwürfe mit Lion Feuchtwanger, überhaupt versteht er es, seine Umgebung für sich dienstbar zu machen. Er war gut vernetzt, würde man heute sagen,  allerdings bleibt vieles im Entwurfstadium stecken und seine Sorge geht dahin, wie er mit dem Schreiben seine Existenz sichern kann. Er macht aus sich einen Typ mit Wiedererkennungswert, angefangen von seiner nachlässigen Kleidung,  in Lederjacke und Schiebermütze antibürgerliche Haltung ausdrückend, und er will auffallen, im Blickfeld bleiben. In der Dachkammer im elterlichen Haus, dem Kraal, dichtet und komponiert er mit seiner Clique Bänkellieder und Moritaten, die später teilweise in den Gedichtband Hauspostille aufgenommen werden. 

„Sie vermitteln den stärksten Eindruck, den unsereiner in der letzten Zeit in deutscher Lyrik gefunden hat. Es mag sich nun jeder seine Lieblingsstücke heraussuchen und auswendig lernen.“, schreibt Kurt Tucholsky zur frühen Brechtschen Lyrik.

Literaturblog
Bertolt Brecht (1898-1956)

1921 pendelt Brecht immer noch zwischen Augsburg und München, aber er belegt keine Vorlesungen mehr. Er ist in eine weitere Affäre verstrickt mit der Opernsängerin Marianne Zoff, die von ihm schwanger ist, er verspürt Verantwortung für seinen Sohn und dessen Mutter Paula Banholzer(genannt Bi), schreibt Filmdrehbücher, die aber abgelehnt werden, kommentiert Theateraufführungen in der Regionalpresse, um wenigstens ein paar Einnahmen zu erzielen. Sein Stück Baal, das er wieder und wieder umarbeitet, ist immer noch an keiner Bühne unterzubringen und bei all dem hat er auch noch einen Prozess wegen einer Beleidigungsklage am Hals. Und da ist auch der Vater, der die schriftstellerischen Ambitionen des Sohnes zunehmend misstrauisch betrachtet. Brecht wird oft beschrieben als kraftmeierischer Dandy und Angeber mit der aufdringlichen Neigung, andere zu schulmeistern, seine Tagebucheinträge relativieren dieses Bild allerdings: Ich bins müde. Die Affären verbrauchen mich, der Film deckt mich zu, die Feinde scharren mich ein. Was soll ich mit der schwangeren Frau? Und er hat nur noch die Tagträume: Ich muss mich angeilen zum Geldverdienen, sonst mag ich nicht. Die Tage sind grau, ich stehe nieder im Kurs…immerfort rechne ich in fabulösen Zahlen, „Brillantenfresser“ 10000, „Mysterium“ 5000, „Liebematch“ 5000, „Trommeln“ 50000, „Preisfilm“ 5000.
Wenn man Hunger hat, ist auch der Traum vom großen Geld  ein geeignetes Antriebsmoment für Dichter, das war schon immer so.

 

Schreiben ist Überleben 

 

Die Zeit von November 1921 bis April 1922 verbringt Brecht hauptsächlich in Berlin. Immerhin ist Trommeln in der Nacht inzwischen in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Eigentlich ist das Stück nicht fertig, er feilt immer weiter, er ist Perfektionist. Selbstzweifel und große Stimmungsschwankungen vertraut er dem Tagebuch an, schreibt er nicht, dann ist es nicht das wahre Leben:  Die Tage sind leer ausgespieene Pflaumenhäute. In Berlin richtet sich das Augenmerk Brechts auf die Großstadt. Er hat Upton Sinclair gelesen(The Jungle) und Kipling und in seiner hartnäckigen und gnadenlosen Menschenbeobachtung wird die Fremdheit zwischen den Menschen, die Orientierungslosigkeit und Einsamkeit im Dschungel der Großstadt zum Thema. Allerdings ist er im Gegensatz zu den Expressionisten mit Ethos und Pathos wesentlich haushälterischer.

Der blutjunge „Stückeschreiber“, wie er sich selbst nennt, erfährt bereits eine hohe Ehrung: Er erhält den Kleistpreis des Jahres 1922. Der Literaturkritiker und spätere Dramaturg Herbert Ihering schreibt: Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, eine neue Melodie, eine neue Vision in der Zeit.  Es war für mich eine Entdeckung, wie souverän Bert Brecht über die Gattung Lyrik verfügte schon bei Beginn seines Schaffens. Auch wenn das Lesen keine Aufführung ersetzt: ich war auch begeistert von der Kraft und Experimentierlust seiner Stücke Baal und Trommeln in der Nacht, der Aufsässigkeit, der unerschrockenen, frechen Ausdrucksweise, mit der er die bürgerliche Welt herausfordert, vielleicht auch die Abwesenheit von Ideologie und Theorie. Dass er durchaus auch hie und da auf einen hilfreichen Skandal geschielt hat, manchmal etwas viel Testosteron im Spiel war, ist mir dabei egal. Auch dass er posthum noch mit Häme bedacht wurde als Staatsdichter der DDR und man ihn insbesondere nach dem Scheitern des realen Sozialismus vielfach totsagte,  kann meine Bewunderung für ihn nicht berühren. Seine Stücke werden nach wie vor gespielt und insbesondere seine Lyrik erfährt immer von Neuem eine Aufwertung. Brechts  Kalendergeschichten übrigens gehören heute noch zu den beliebtesten Büchern der Deutschen.

»Schreiben Sie, daß ich unbequem war und es auch nach meinem Tod zu bleiben gedenke. Es gibt auch dann noch gewisse Möglichkeiten.«

Brecht Geburtshaus und Museum, Augsburg
Brecht Geburtshaus und Museum, Augsburg

Aus der Hauspostille(veröffentlicht 1927) ein Gedicht, geschrieben 1921 im Zug nach Berlin:

 

Erinnerung an die Marie A.

1

An jenem Tag im blauen Mond September

Still unter einem jungen Pflaumenbaum

Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe

In meinem Arm wie einen holden Traum

Und über uns im schönen Sommerhimmel

War eine Wolke, die ich lange sah

Sie war sehr weiß und ungeheuer oben

Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

 

2

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde

Geschwommen still hinunter und vorbei

Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen

Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?

So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.

Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst

Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer

Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst.

 

3

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen

Wenn nicht die Wolke dagewesen wär

Die weiß ich noch und werd ich immer wissen

Sie war sehr weiß und kam von oben her.

Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer

Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind

Doch jene Wolke blühte nur Minuten

Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

 

Tagebuchzitate und Gedicht aus:Bertolt Brecht, Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Suhrkamp Verlag,

Bilder: Suhrkamp Verlag; Stadt Augsburg

Lesenswert:

http://brechtfestival-blog.de/?p=194(Zur Flüchtlingsproblematik)

https://mkammerspiele.wordpress.com/2015/05/20/bertolt-brecht-und-die-munchner-kammerspiele/

http://www.basisfilm.de/HJB/hundepdf/HJB-FB.pdf(Hundert Jahre Bertolt Brecht)