Update 10.11.2022
Eine steile Karriere, die der 1961 geborene brasilianische Autor Luiz Ruffato da hingelegt hat. Luiz Ruffato kennt die Verhältnisse der Arbeiterfamilien, denen er eine Stimme geben will, aus eigenem Erleben. Bereits im Alter von sechs Jahren half er seinem Vater Popcorn zu verkaufen, die Mutter war Wäscherin. Durch einen Gönner, dem Direktor einer Privatschule, war es möglich, ein Studium abzuschließen als Journalist. Einer der ganz seltenen Fälle, dass ein Angehöriger der intellektuellen Elite in Brasilien von ganz unten kommt!

Der Autor beschreibt in Es waren viele Pferde die Megacity Sao Paulo, größte Stadt Brasiliens mit geschätzten 12 Millionen Einwohner(nur Kernstadt) an einem einzigen Tag, dem 9. Mai 2000 in Textstücken verschiedener Länge, ohne durchgehende Handlung, in verschiedenen Milieus und mit wie zufällig zusammengewürfeltem Personal.
Schon beim oberflächlichen Durchblättern des Buches fallen die verschiedenen Schriften und die wechselnden Seitenlayouts auf. Das Portrait eines Monstrums, eines Molochs von Stadt in einem Text von gerade mal 158 Seiten, das war eine literarische Herausforderung. In 69 Streiflichtern, mal in einem heftigen, wütenden Realismus, dann wieder zart, leise, mitfühlend beschreibt Luiz Ruffato das Alltagsleben der Menschen aus verschiedenen Perspektiven, meist aus der Sicht von Tagelöhnern, alleingelassenen Frauen, jungen Drogenkonsumenten, Kleinkriminellen oder Migranten.
Literatur im Rhythmus der Megacity
Manchmal sind die Schilderungen in einem sachlichen, fast teilnahmslosen Tonfall angelegt. Man spürt aus jedem Satz die Verunsicherung der Menschen, die Heimatlosigkeit in der Masse, der Nähe und Enge ausgeliefert, jeder Tag ein Projekt materiellen und seelischen Überlebens.

Es sind starke Kontraste, die auf den Leser einwirken. Da lesen wir von Tagelöhnern, darunter Kinder, die früh am Morgen den Trampelpfad an der Landstraße entlanggehen-für den Bus haben sie kein Geld.
Der Junge ist zehn, elf Jahre alt, mager, sieht jünger aus. Er ist von der Schule gegangen und verkauft Hotdogs – mit Ketchup oder Mayonnaise – und Coca-Cola von der Firma, in der sein Vater arbeitet. Nachts versteckt er seinen Karren dort auf dem Gelände, die Nachtwächter passen auf. Wenn er groß ist, will er nach Brasilien aufbrechen, träumt er, und Lastwagenfahrer werden.
Und dann in einem anderen, ganz gegensätzlichen Bericht ist geschildert, wie ein Junge von seinem Vater in einem gepanzerten Mercedes von der Schule abgeholt wird und zum 12. Geburtstag ein Go-Kart geschenkt bekommt.
Die Sprache Luiz Ruffatos hat bisweilen geradezu etwas Vegetatives, sie wächst und wuchert nach allen Seiten und bricht doch manchmal mitten im Satz ab: es wird deutlich, wie immer man es anstellt: die Beschreibung dieser Stadt wird immer Stückwerk bleiben.
Die Alte, verhärmt, eingezwängt in den Sitz Nummer 3 im Bus Garanhuns-Sao Paulo schläft nicht…weiße Kühe im Grün der Weide, unfruchtbare Wolken, die Wäsche an der Leine zum Trocknen, Dörrfleisch, Erde, Erde, Erde, Wein, grünheiß der Tag, kaltblau der Abend, die Nacht mit ihren staubigen Sternen, die Welt, große Welt, die kein Ende nimmt, Oma bald sind wir, der Druck auf der Blase, die Bauchschmerzen, Rücken, Au!, Stufen, Ui!, die Beine, ohne Halt, Schau, Oma, die Lichter von Sao
Nüchterne Beschreibungen, Dialoge, Gesprächsfetzen und Biografieschnipsel werden in diesem Text in einer Weise aneinandergefügt und gegenübergestellt, welche die Schnittechnik des Films für die Literatur nutzbar machen will. Man ist an Dos Passos erinnert, der das in seiner U.S.A.-Trilogie zur Meisterschaft gebracht hat. Aber auch in der lateinamerikanischen Literatur wurde diese Montagetechnik schon in den Zwanziger Jahren durchaus angewandt. Überhaupt, wer stilistische und formale Neuerungen in der Literatur sucht und liebt, sollte sich öfter in spanisch-oder portugiesischsprechenden Regionen umsehen. Vergleiche mit James Joyce, wie ich sie in Rezensionen gelesen habe, halte ich aber für unpassend, so kühne Neuerungen waren das keineswegs, außer dass sich das Geschehen an einem einzigen Tag abspielt. Gewiss ist aber, dass durch diese Arbeitsweise des Autors ein kaleidoskopartiges Panorama entsteht, das, wenn auch rational auflösbar, doch den Eindruck des schwindelerregenden Gewirrs des Stadtlebens vermittelt.
Schreiben für die Benachteiligten
Natürlich ist Luiz Ruffato parteiisch, er schreibt immer auch ein Stück seines eigenen Lebens mit. Ein Viertel der Einwohner Sao Paulos lebt in den irregulären Siedlungen, den Favelas, und es gibt natürlich besseren Wohnraum für den sogenannten Mittelstand und die Wohlhabenden. Auch ist Sao Paulo inzwischen die führende Kulturstadt mit bedeutenden Theatern, Konzertsälen, Konferenzen und Messen. Dies kommt im vorliegenden Buch nicht zum Ausdruck, Ruffato ist bei den Benachteiligten, bei denen, die träumen müssen und sich die Hoffnung bei Wahrsagern, Kirchen oder durch die Teilnahme bei Lotterien holen.

Und einer Gruppe von Menschen gilt die besondere Sympathie des Autors: den Müttern. Es sind die Frauen mit ihrer Kraft und Phantasie, sich zu organisieren und das öffentliche Leben zusammenzuhalten, hat man das Gefühl. Sie sind die kraftvolle Mitte der Clans, mit denen sich die Brasilianer mehr identifizieren als mit jedem staatlichen Gebilde. Explizit weist Luiz Ruffato darauf hin, dass der beschriebene Tag, der 9. Mai im Jahr 2000 vier Tage vor Muttertag gelegen ist. So mancher Sohn muss noch ein Geschenk „organisieren“- und nix in der Tasche- und die Mütter haben Angst, dass die Kinder auf die schiefe Bahn geraten könnten.
Einzelne der im Text beschriebenen Szenen und Vorkommnisse hätten sicher genausogut an anderen Schauplätzen der Welt stattfinden können, aber die Mixtur, das lässt uns Ruffato glauben, die Gerüche, die Sprache, die Menschen mit ihren besonderen Erinnerungen und Träumen, und ihrer Art, das Leben zu bewältigen, das ist Sao Paulo: (Layout wie im Buch):
die soziale lage lässt mich nicht kalt die innenstadt ist nicht mehr wiederzuerkennen horden von straßenverkäufern taschendieben sandwichmen uringestank ölgeruch angereichert mit fährt mit der hand durch die kurzen haare(meine mutter trug handschuhe, hut, hohe absätze, um über den viaduto do cha zu flanieren, als ich ein kind war, spielte ich noch auf der) dies soll das land der zukunft sein? gott soll brasilianer sein? gestern noch ein naturparadies heute favela wo gestern eine schule stand ist heute ein knast wo gestern ein haus aus der jahrhundertwende stand sind heute drei wohneinheiten mit siebzig quadratmetern
Luiz Ruffato hat mit Es waren viele Pferde einen bemerkenswerten Debütroman geschrieben. Es war wirklich ein Leseerlebnis mit vielen stilistischen und inhaltlichen Überraschungen. Man muss dem Verlag gratulieren, dass er dieses Buch, das im Original ja bereits 2001 erschienen war, in der hervorragenden Übersetzung von Michael Kegler herausgebracht hat.
Aufmerksam darauf geworden bin ich durch die Literatur Hotlist der 10 besten Bücher der unabhängigen Verlage 2013.
Außerdem stand es auf Platz 4 der Literatur BestenlisteFrühjahr 2013.

Ruffato, Luiz : Es waren viele Pferde
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler
ISBN 978-3-86241-420-8 | 160 Seiten | gebunden | Auch als E-Book lieferbar
| erschienen Oktober 2012 | 18.00 € | lieferbar
Inzwischen schreibt Luiz Ruffato an einem fünfbändigen Werk Vorläufige Hölle, wovon die ersten 2 Bände bereits bei Assoziation A, Berlin, erschienen sind.