Beeinflusst von einer gründlichen schulischen Überdosierung, nehme ich an, ist eine weiterführende Brecht-Lektüre bei mir lange auf Eis gelegen. Seine frühen Tagebücher, die ja erst in den Achtzigern öffentlich wurden, kamen mir beim Stöbern in der Stadtbibliothek in der hervorragend kommentierten Gesamtausgabe von 1994 in die Hände — und dies wurde jetzt doch ein größeres Leseprojekt als gedacht, denn wie wäre das Tagebuch zu verstehen, ohne seine Stücke Baal, Trommeln in der Nacht und Im Dickicht der Städte zu kennen , mit denen sich der junge Brecht nach dem ersten Weltkrieg herumschlug.

Die Eintragungen in Tagebüchern beginnen im Mai 1913, als Eugen Berthold Brecht als 15-Jähriger das Kgl. Bayerische Realgymnasium in Augsburg besuchte. Gleich in den allerersten Eintragungen ist zu lesen: Habe wieder Herzbeschwerden… Mein Herz ist sehr rebellisch. Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst. Der Junge leidet zeitlebens an einer Herzneurose, ist in Kur mit seiner Mutter, die ebenfalls früh kränklich ist, in Bad Steben. Sein Vater, der sich hochgedient hat aus einfachen Verhältnissen zum Direktor einer Papierfabrik, erkrankt ebenfalls schwer. Dies alles hält der junge Eugen fest. Die Gedichte, die er einstreut, befasssen sich neben jahreszeitlichen Einträgen mit biblischen Themen, z.B. Judas Ischariot, Emaus, Gethsemane. Er arbeitet bereits an Dramenentwürfen und es gibt im Gedicht Arbeiter schon Hinweise auf eine sozialkritische Haltung und Sympathie mit den Proletariern; die Brechts wohnten in Augsburg ja auch in einer Arbeitersiedlung der väterlichen Firma. Brecht ist einer der Mitbegründer der Schülerzeitung Die Ernte und 1914 im Alter von 16 Jahren erscheint sein erstes Gedicht in den Augsburger Neueste Nachrichten, noch unter dem Pseudonym Berthold Eugen. Viel vaterländisch Gereimtes, viel Expressionismus noch. Die verfehlte Pädagogik dieser Zeit mit eindeutig deutsch- nationalem Einschlag zeigte seine Wirkung.
Vorbilder: Die poetes maudits
Als der nächste große Abschnitt des Tagebuches einsetzt, Juni 1920,- der Krieg ist vorbei-, ist Brecht als Student der Medizin in München immatrikuliert. Er ist inzwischen Vater eines nach Wedekind benannten Sohnes Frank, den man im Allgäu versteckt aufwachsen lässt, um der Mutter Paula Banholzer die „Schande“ in Augsburg zu ersparen. Er hat das Stück Baal fertiggestellt und überarbeitet gerade Trommeln in der Nacht.
Früh zeigt sich, dass Brecht nichts dem Zufall überlässt und nicht gewillt ist, für die Schublade zu schreiben. Nachdem er bereits in der Tageszeitung publiziert hat, fühlt er sich wie ein erwachsener Autor und mit entsprechender Arroganz betrachtet und beurteilt er seine Umwelt.
Wie mich dieses Deutschland langweilt! Es ist ein gutes mittleres Land, schön darin die blassen Farben und die Flächen, aber welche Einwohner! Ein verkommener Bauernstand, dessen Rohheit aber keine fabelhaften Unwesen gebiert, sondern eine stille Vertierung, ein verfetteter Mittelstand und eine matte Intellektuelle!
Brecht liest Francois Villon, Rimbaud, Verlaine und er verehrt Frank Wedekind. Er will noch wilder dichten als diese. Er ist kein Bewohner des Elfenbeinturmes, in den letzten zwei Kriegsjahren trägt er seine Lyrik buchstäblich auf die Straße. Mit Lampions zieht die Brecht-Clique zum Schrecken vieler Bürger um die Häuser, durch die Vorstadtkneipen mit Liedern und Balladen zur Klampfe.
Er ist geheilt vom vaterländischen Taumel und Schwindel nachdem er in einem Lazarett als Sanitätssoldat Dienst getan hat und die Fronterlebnisse der Kameraden mit anhören musste. Er möchte nah an den Menschen sein, keinen Ideologien oder Theorien anhängen, geht auf Volksfeste in Augsburg und München: Immer streune ich abends übern Plärrer, der einem seine Negermusiken mit Keulenschlägen eintreibt: Man bringt sie nachts nimmer aus den Hautfalten. Brecht scheint von seinem Genie voll überzeugt, bespricht seine Entwürfe mit Lion Feuchtwanger, überhaupt versteht er es, seine Umgebung für sich dienstbar zu machen. Er war gut vernetzt, würde man heute sagen, allerdings bleibt vieles im Entwurfstadium stecken und seine Sorge geht dahin, wie er mit dem Schreiben seine Existenz sichern kann. Er macht aus sich einen Typ mit Wiedererkennungswert, angefangen von seiner nachlässigen Kleidung, in Lederjacke und Schiebermütze antibürgerliche Haltung ausdrückend, und er will auffallen, im Blickfeld bleiben. In der Dachkammer im elterlichen Haus, dem Kraal, dichtet und komponiert er mit seiner Clique Bänkellieder und Moritaten, die später teilweise in den Gedichtband Hauspostille aufgenommen werden.
„Sie vermitteln den stärksten Eindruck, den unsereiner in der letzten Zeit in deutscher Lyrik gefunden hat. Es mag sich nun jeder seine Lieblingsstücke heraussuchen und auswendig lernen.“, schreibt Kurt Tucholsky zur frühen Brechtschen Lyrik.

1921 pendelt Brecht immer noch zwischen Augsburg und München, aber er belegt keine Vorlesungen mehr. Er ist in eine weitere Affäre verstrickt mit der Opernsängerin Marianne Zoff, die von ihm schwanger ist, er verspürt Verantwortung für seinen Sohn und dessen Mutter Paula Banholzer(genannt Bi), schreibt Filmdrehbücher, die aber abgelehnt werden, kommentiert Theateraufführungen in der Regionalpresse, um wenigstens ein paar Einnahmen zu erzielen. Sein Stück Baal, das er wieder und wieder umarbeitet, ist immer noch an keiner Bühne unterzubringen und bei all dem hat er auch noch einen Prozess wegen einer Beleidigungsklage am Hals. Und da ist auch der Vater, der die schriftstellerischen Ambitionen des Sohnes zunehmend misstrauisch betrachtet. Brecht wird oft beschrieben als kraftmeierischer Dandy und Angeber mit der aufdringlichen Neigung, andere zu schulmeistern, seine Tagebucheinträge relativieren dieses Bild allerdings: Ich bins müde. Die Affären verbrauchen mich, der Film deckt mich zu, die Feinde scharren mich ein. Was soll ich mit der schwangeren Frau? Und er hat nur noch die Tagträume: Ich muss mich angeilen zum Geldverdienen, sonst mag ich nicht. Die Tage sind grau, ich stehe nieder im Kurs…immerfort rechne ich in fabulösen Zahlen, „Brillantenfresser“ 10000, „Mysterium“ 5000, „Liebematch“ 5000, „Trommeln“ 50000, „Preisfilm“ 5000.
Wenn man Hunger hat, ist auch der Traum vom großen Geld ein geeignetes Antriebsmoment für Dichter, das war schon immer so.
Schreiben ist Überleben
Die Zeit von November 1921 bis April 1922 verbringt Brecht hauptsächlich in Berlin. Immerhin ist Trommeln in der Nacht inzwischen in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Eigentlich ist das Stück nicht fertig, er feilt immer weiter, er ist Perfektionist. Selbstzweifel und große Stimmungsschwankungen vertraut er dem Tagebuch an, schreibt er nicht, dann ist es nicht das wahre Leben: Die Tage sind leer ausgespieene Pflaumenhäute. In Berlin richtet sich das Augenmerk Brechts auf die Großstadt. Er hat Upton Sinclair gelesen(The Jungle) und Kipling und in seiner hartnäckigen und gnadenlosen Menschenbeobachtung wird die Fremdheit zwischen den Menschen, die Orientierungslosigkeit und Einsamkeit im Dschungel der Großstadt zum Thema. Allerdings ist er im Gegensatz zu den Expressionisten mit Ethos und Pathos wesentlich haushälterischer.
Der blutjunge „Stückeschreiber“, wie er sich selbst nennt, erfährt bereits eine hohe Ehrung: Er erhält den Kleistpreis des Jahres 1922. Der Literaturkritiker und spätere Dramaturg Herbert Ihering schreibt: Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, eine neue Melodie, eine neue Vision in der Zeit. Es war für mich eine Entdeckung, wie souverän Bert Brecht über die Gattung Lyrik verfügte schon bei Beginn seines Schaffens. Auch wenn das Lesen keine Aufführung ersetzt: ich war auch begeistert von der Kraft und Experimentierlust seiner Stücke Baal und Trommeln in der Nacht, der Aufsässigkeit, der unerschrockenen, frechen Ausdrucksweise, mit der er die bürgerliche Welt herausfordert, vielleicht auch die Abwesenheit von Ideologie und Theorie. Dass er durchaus auch hie und da auf einen hilfreichen Skandal geschielt hat, manchmal etwas viel Testosteron im Spiel war, ist mir dabei egal. Auch dass er posthum noch mit Häme bedacht wurde als Staatsdichter der DDR und man ihn insbesondere nach dem Scheitern des realen Sozialismus vielfach totsagte, kann meine Bewunderung für ihn nicht berühren. Seine Stücke werden nach wie vor gespielt und insbesondere seine Lyrik erfährt immer von Neuem eine Aufwertung. Brechts Kalendergeschichten übrigens gehören heute noch zu den beliebtesten Büchern der Deutschen.
»Schreiben Sie, daß ich unbequem war und es auch nach meinem Tod zu bleiben gedenke. Es gibt auch dann noch gewisse Möglichkeiten.«

Aus der Hauspostille(veröffentlicht 1927) ein Gedicht, geschrieben 1921 im Zug nach Berlin:
Erinnerung an die Marie A.
1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst.
3
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Tagebuchzitate und Gedicht aus:Bertolt Brecht, Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Suhrkamp Verlag,
Bilder: Suhrkamp Verlag; Stadt Augsburg
Lesenswert:
http://brechtfestival-blog.de/?p=194(Zur Flüchtlingsproblematik)
https://mkammerspiele.wordpress.com/2015/05/20/bertolt-brecht-und-die-munchner-kammerspiele/
http://www.basisfilm.de/HJB/hundepdf/HJB-FB.pdf(Hundert Jahre Bertolt Brecht)
Ein ganz wunderbarer wissenswerter Artikel – danke schön.
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Danke, Arno von Rosen, für Besuch und das Lob. Das war meine Annäherung an das Frühwerk von Bertolt Brecht, kann ich nur empfehlen.
Beste Grüße und schöne Adventtage.(Du hast das Thema Weihnachten ja in Deinem „Praxisgespräch“ bestens und treffend verarbeitet).
herbertsteib
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da kann ich mich meinem vorschreiber nur anschließen: wunderbar!
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Danke, Diana, leider kannte ich „nur“ die klassischen Stücke von Brecht.
Seine frühe Lyrik war jetzt eine echte Entdeckung.
Viele Grüße und schönes Wochenende.
herbertsteib
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Sehr gern gelesen und wieder etwas mehr über den Bert erfahren.
Vielen Dank…✨
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Danke für den freundlichen Besuch, Karfunkelfee, Ich hatte „den Bert“ irgendwie schon abgehakt. Das war ein Fehler!
Viele Grüße und danke auch für Deine niveauvollen und spannenden Beiträge auf Deinem Blog.
HS
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Lieber Herbert, ich glaube, abhaken könnte ich ihn nie, den Bert. Dazu ist er einfach viel zu vielseitig und immer mal wieder ist er für eine Überraschung gut. Er hat die Zeit verändert und bewegt, ihr einen sehr eigenwilligen und unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Ausgerechnet sein Pflaumenbaum-Gedicht hast Du herausgesucht, das erste, das ich von ihm las. Dein Beitrag war so spannend zu lesen! Danke auch für Dein Lob für meinen Blog, das freut mich jetzt gerade ungemein. Liebe Grüße von der Karfunkelfee
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Wunderbar!
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Vielen Dank für das Lob. War mir nicht sicher, ob Bertolt Brecht noch interessiert.
Beste Grüße und schöne Tage
herbertsteib
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Lieber Herbert, ja, Brecht interessiert noch, habe viel durch deinen Beitrag gelernt, habe mich nämlich gern vor ihm gedrückt, das hast du hiermit geändert.
Einen schönen Abend wünscht
Madame Filigran
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…oh, was ist denn da oben mit meinem Namen passiert
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Liebe Madame Filigran,
habe gerade noch einmal Deinen schönen Beitrag vom November gelesen „Ein Literaturpalast“. Brecht hat in seinen frühen Tagebüchern sicher nicht an Veröffentlichung gedacht und wir sehen die Selbstzweifel und das Grüblerische und Selbstkritische…
Danke für den Besuch und schöne Adventstage
HS
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lieber herbert seib – auch ich habe diesen artikel gern gelesen und viel erfahren. dabei musste ich daran denken, dass ich mir mit meinem ersten, selbst erarbeiteten taschengeld im februar 1969 die bertolt brecht gesamtausgabe kaufte (20 bände, werkausgabe edition suhrkamp). die bücher haben all meine umzüge überstanden und haben noch heute ihren platz im regal.
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Danke für Ihren Besuch und Kommentar. 1969 waren die Tagebücher noch nicht dabei in der Gesamtausgabe, ich selbst habe nur ein paar Einzelbände von Flohmärkten, aber die Gesamtausgabe steht in Deutschland wohl in jeder Bücherei. Ich war schon angetan jetzt von Brechts frühen Gedichten und Stücken.
Ich weiß gar nicht mehr, wie ich Ihren Blog dauerferien entdeckt habe. Sehr schöne, bereichernde Beiträge. Werde mich noch gründlicher umsehen….
Schöne Adventstage und beste Grüße
Herbert Steib
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Lieber Herbert. Mir an deinem Blog immer wieder ein Beispiel nehmend, wünsche ich dir schöne Festtage und einen guten Rutsch. Danke für deine Besuche auf meiner Seite.
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Lieber Helmut Hostnig,
der Dank geht von ganzem Herzen zurück. Als gelungenes Beispiel würde ich meinen Blog nicht gerade ansehen, ich habe oft Mühe, den richtigen Ton zu finden. Dein blog ist ja wesentlich vielseitiger und mit persönlicheren kreativen Beiträgen jetzt schon seit Jahren präsent. Ich freue mich immer, wenn es in meinen mails heißt „Reiseberichte, Texte, Gedichte, Videopoems: Neuer Beitrag“.
Schöne Feiertage wünsche ich dir auch,viele Grüße nach Österreich hinüber, auf ein neues interessantes Jahr!
herbertsteib
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Hat dies auf bloecker.blog rebloggt und kommentierte:
My congrats = das macht der Autor (Herbert) richtig gut …
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