Juan Goytisolo: Das Manuskript von Sarajevo

Die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo von 1992 bis 1996 war eine der längsten in der Geschichte der Kriegsführung. Etwa 12000 Menschen, meist Bosnier, aber auch Serben, Kroaten und andere, darunter viele Frauen und Kinder,  starben unter dem Bombenhagel serbischer Terroristen.

Als das vorliegende Buch 1995 in Spanien erschien, dauert die Belagerung noch an. Der 1931 in Barcelona geborene Juan Goytisolo war einer der wenigen Schriftsteller, die dem Aufruf Susan Sontags  an die Künstler aller Welt gefolgt waren, sich in die Stadt zu begeben, um der furchtbaren Lage der Bevölkerung weltweit mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Juan Goytisolo, in Deutschland weit weniger  bekannt als seine Schriftstellerkolleg(inn)en Jorge Semprun, Javier Marias, Raffael Chirbes, Rosa Montero oder Carlos Ruiz Zafon o.a., war damals  in Spaniens Literaturbetrieb längst etabliert. 

Goytisolo Literaturblog
Juan Goytisolo Quelle: diepresse.com

Der Roman Das Manuskript von Sarajevo  führt uns in der belagerten Stadt zunächst ganz realistisch in eine Szenerie, die einem Kriminalfall ähnlich abzulaufen scheint: Ein mysteriöser ungefähr 60 Jahre alter Mann, vermutlich Spanier, stirbt,  als das Hotel in dem er abgestiegen ist, von Mörsergranaten getroffen wird. Ein spanischer Kommandant der Internationalen Vermittlungstruppen wird damit beauftragt, die entsprechenden Untersuchungen einzuleiten und die erforderlichen Formalitäten zu erledigen. Es folgen insgesamt 5 Berichte des Kommandanten, die ein vom Autor eingeführter Kompilator  zusammengestellt hat, dazwischen eingestreut Traumberichte, Berichte von einem belagerten Bezirk in Paris, Gedichte. Manche dieser Texte könnten auch alleine stehen und haben keinen direkten aktuellen Bezug zum Geschehen in Sarajewo. Der Kommandant muss zunächst erkennen, dass der Leichnam verschwunden ist, neben ein paar Reiseutensilien sind nur ein grünes Heft mit handschriftlichen Eintragungen und dem Kürzel „J.G.“ (Autor?), sowie maschinengeschriebene Manuskripte  aufzufinden; verschwunden ist, obwohl an der Rezeption abgegeben,  auch der Reisepass. Als Leser ist man erstaunt, dass die Berichte des Kommandanten in einer ausgesprochen anspruchsvollen Ausdrucksweise erfolgt, nicht etwa in einem pragmatischen, militärischen Berichtsstil. So schreibt er im ersten Bericht:

Meinerseits werde ich eine erste Bewertung der maschinenschriftlichen Texte und Gedichte vornehmen, in der Hoffnung, dass sie die Identität des Verstorbenen oder Verschwundenen sowie die Motive für seine unter größter Lebensgefahr unternommene Reise in diese Republik aufklären helfen.

Die Nachforschungen ergeben weiter, dass sich kein Spanier für einen Flug angemeldet hat oder jemand, der von seinem Äußeren und Alter der bewussten Person entsprach. 

Zu den Initialen „J.G“. schreibt der Kommandant in seinem zweiten Bericht:

In unserem Land, so sagte ich zu einem Beamten aus dem Innenministerium, sind sie so zahlreich wie die Vögel am Himmel und die Fische im Meer: eine Liste allein mit allen Juan Perez und Jose Gonzales würde schon das Einwohnerverzeichnis einer Stadt von der Größe La Corunas füllen.  Und weiter:

Schon eine erste Durchsicht der Gedichte des geheimnisvollen „J.G.“ lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um eine homosexuelle Person handelt. Die Verse, über deren möglichen ästhetischen Wert ich mich eines Urteils enthalte, führen eine Reihe von Bildern und Handlungen vor, die unter der Maske einer sibyllinischen und raffinierten Sprache nichts als dreiste Verherrlichungen des Lasters sind. 

Erstaunt ist man als Leser zunächst, als in weiteren Texten plötzlich Paris als Schauplatz auftaucht, denn Goytisolo vergleicht die Lage der arabischen und farbigen Einwandererfamilien in Frankreich mit einem Belagerungszustand. Ausgeliefert, hilflos den Vorurteilen, Anschuldigungen und Übergriffen von fremdenfeindlichen Einheimischen. Auch ausgeliefert den staatlichen Institutionen, die oft aus wahltaktischen und populistischen Motiven Druck ausüben. Der Autor entwirft ein Szenario, in dem „ethnische Säuberungen“ durchgeführt werden, einen „Belagerten Bezirk“, in dem Ausländer und Landfremde keinerlei Rechte und Freiheiten mehr haben.

Stellvertretend für die anderen Ausgegrenzten ruft der „Defäkator“:

Ja, wir sind Kot, Fäkalien, eine Beleidigung für Aug und Nase der schönen Menschen. Von ihren Labors und Industrien verseucht und verstrahlt, taugen wir nicht einmal als Düngemittel für Ihre Felder. Unter dicken Betonblöcken werden sie uns begraben müssen, damit wir nicht ihr Wasser, ihre Erde und ihre Luft verderben….

Offenbar glaubt der Autor nicht, dass die Problematik in einer linearen,  realistischen Weise dargestellt werden könnte. Juan Goytisolo vervielfältigt gewissermaßen das Thema in eine absurde, mit beißender Ironie gespickte Landschaft; auch eigene autobiographische Erfahrungen fließen mit ein, schließlich hat er sich unter Franco, auch wegen seiner öffentlich gemachten Homosexualität selbst als Belagerter und Ausgegrenzter empfinden müssen. Seine Bücher waren verboten, er musste ins Exil nach Paris und später  nach Marrakesch, wo er heute noch zeitweise lebt.

Schließlich muss neben dem Leser auch der Kommandant aufgeben in seinen Bemühungen, eine vernünftige Erklärung für die Vorfälle zu finden, er verzettelt sich so, er verzweifelt,  dass er sogar in eine Psychiatrische Klinik eingeliefert wird. Als Leser fühlt man sich, als sei man in eine Falle getappt.

Am stärksten beeindruckt und zum Nachdenken gebracht hat mich ein Abschnitt des Büches, überschrieben mit Der Todfeind:

Die Nationalbibliothek war von Brandraketen getroffen worden und, abgesehen von ihrer neomaurischen Fassade aus österreichischer Zeit, nichts als ein trauriger Trümmerhaufen. Einer der jetzt arbeitslosen Historiker, dessen Wohnung von Granaten getroffen wurde, entdeckt durch das Loch in der Wand in einem gegenüberliegenden Gebäude, nur etwa hundert Meter entfernt über dem Fluss, einen maskierten Heckenschützen, der ihn im Visier hat. Warum ausgerechnet ihn und nicht einen anderen, fragt er sich:

Einer Legende zufolge, die er als Kind gelesen hatte, wird jedem Menschen genau in dem Augenblick, da seine Mutter mit ihm niederkommt, auch sein virtueller Feind geboren. Dieser kann auf einem anderen Kontinent zur Welt kommen, anderer Rasse und anderen Geschlechts sein, das Licht der Welt auf der anderen Seite der Erdkugel erblicken. Keiner weiß von der Existenz des anderen, dem unversöhnlichen Hass, der sie aneinanderkettet, es sei denn, ein unglücklicher Zufall führt sie zusammen. 

Es treten fast paradoxe Gefühlen und Einsichten auf:

Die konzentrierte Aufmerksamkeit, die der Unbekannte ihm zuteil werden ließ, begann ihm sogar zu schmeicheln. Tag und Nacht war sein Todfeind ihm zu Diensten, widmete ihm gewissenhaft seine Zeit, richtete sein Leben nach ihm wie ein besorgter Liebender….

Auch der Todfeind musste essen, auf Toilette gehen, schlafen.  Das gab Raum, durchzuatmen, aber keinen Raum, wirklich zu leben.  Das Territorium seiner einstigen Wohnung, das er noch bewohnen konnte und das nicht einzusehen war, war zusammengeschrumpft auf ein paar Quadratmeter. Sein einziger Daseinszweck: sich nicht in die Schusslinie zu begeben.

Ein Zweifel nagte an ihm: bedeutete dieser Zustand wechselseitigen Sich-Ergänzens auch Gegenseitigkeit der Gefühle? Konnte der eine ohne den anderen leben, oder waren ihre Schicksale, wie die Legende es wollte, untrennbar miteinander verknüpft?

Fragen, die man sich stellt, wenn die bisherige Lebenswelt sich durch äußere Umstände verbraucht oder erschöpft hat. Und die Flucht in den Traum lebenswichtig wird. 

Nationalbibliothek Literaturblog
Nationalbibliothek Sarajevo vor der Bombardierung Quelle: BR-Eldina Jasarevic

 Unbedingt zu erwähnen ist  des Autors Schilderung  der  Bombardierung der Nationalbibliothek, er spricht  von Memorizid, etwa 3 Millionen Bücher und Dokumente aus der multiethnischen Geschichte Bosniens gingen in Flammen auf. Durch die Bombardierung der Bibliothek haben das Land und die Stadt einen wichtigen Teil ihrer kulturellen Identität verloren. Die Asche tausender Bücher -die schwarzen Vögel von Sarajevo-schwebte tagelang über der Stadt. Der als Cellist von Sarajevo bekanntgewordene Musiker Vedran Smajlovic spielte in den Ruinen. 

Vedran Smajlovic Literaturblog
Vedran Smajlovic spielt in den Ruinen der Nationalbibliothek Quelle: Wikipedia

Es war klar, dass sich nach meiner euphorischen Lektüre von Antonio Lobo Antunes‘ Die Vögel kommen zurück jedes Nachfolgebuch schwer haben würde in meiner  Beurteilung. In dem Roman  Das Manuskript von Sarajevo oder besser: der Textsammlung, die sich Roman nennt, bringt Juan Goytisolo für meinen Geschmack allzu häufig seine persönlichen politischen Bekenntnisse unter, seine Anklage gegen Westeuropa über dessen zögerliche Politik, oder gegen die USA, die dem serbischen Aggressor nicht mit Waffengewalt gegenübertrete. Bei vielen Anspielungen oder Verweisen aus der arabischen Mystik musste ich zugegebenermaßen passen, obwohl einiges nachzuschlagen war. Seine Affinität zur arabisch-islamischen Welt ist deutlich zu spüren, Juan Goytisolo gilt als Pendler und Vermittler zwischen den Kulturen und tritt vehement  islamophoben Tendenzen entgegen.

Der englische Titel des Buches State of Siege passt m.E. besser zum Inhalt des Buches, weil Juan Goytisolo wie beschrieben Außenseiter, Fremde, Flüchtlinge, Menschen anderer Hautfarbe und kultureller Herkunft in aller Welt in einem Zustand der Belagerung sieht. 

Neben vielen anderen Preisen  zuvor,  erhielt Juan Goytisolo 2014 den Cervantes-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung in der spanischsprachigen Welt.

Cover Literaturblog
Das Manuskript von Sarajevo Cover

Das Manuskript von Sarajevo, Suhrkamp Verlag, 191 Seiten. Übersetzung von Thomas Brovot, ISBN: 978-3518410479, € 18,99

Weiterführende Literatur:

Der kanadische Autor Steve Galloway veröffentlichte 2008 den Roman Der Cellist von Sarajevo:  btb, 240 Seiten, Taschenbuch, Broschur,  11,8 x 18,7 cm, ISBN: 978-3-442-73892-2, € 9,95

Eine Zusamenfassung weiterführender Literatur gibt es bei www.tour-literatur.de

Juan Goytisolo fuhr im Schützenpanzer in die Stadt Sarajewo. Auf Deutsch erschienen seine Eindrücke der Belagerung als realer Bericht unter dem Titel Notizen aus Sarajewo 1993, edition suhrkamp 1899, Broschur, 140 Seiten, ISBN: 978-3-518-11899-3, € 6,99. Die Übersetzung besorgte Maralde Meyer-Minnemann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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5 Kommentare zu „Juan Goytisolo: Das Manuskript von Sarajevo

  1. Eine sehr interessante Besprechung. Nach dem nicht ganz so positiven Fazit am Ende habe ich mir gerade, wegen Interesse am Thema, antiquarisch die Notizen aus Sarajevo vom selben Autor bestellt.
    Vielen Dank für die Besprechung und die Tipps am Ende Deines Posts.
    Schöne Grüsse
    Kai

    Gefällt 1 Person

  2. Das Interesse freut mich. War ein etwas schwieriges Buch, vor allem die Anspielungen und Verweise auf die arabisch-islamische Mystik konnte ich oft nicht so recht einordnen. Aber das ist mein Problem.
    Danke für den freundlichen Besuch und viele Grüße.
    herbert

    Gefällt 1 Person

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