:Michael Cunningham: In die Nacht hinein

Der 1952 in Cincinnati, Ohio, geborene Michael Cunningham, hat mit seinem in 22 Sprachen übersetzten Roman The Hours (deutsch: Die Stunden) 1999 den Pulitzer-Preis für Literatur erhalten, der 2002 auch mit einer Starbesetzung verfilmt worden ist. Michael Cunningham lebt heute in New York und unterrichtet Creative Writing am Brooklyn College.  In die Nacht hinein(By Nightfall) ist sein fünfter Roman. 

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Michael Cunningham (Quelle: David Shank)

Denn das Schöne ist nichts

als des Schrecklichen Anfang“

mit diesem wenig ermutigenden Hinweis Rilkes aus den Duineser Elegien stimmt uns Cunningham ein in das Geschehen, das uns in die zeitgenössische New Yorker Kunstszene führt, zum gutsituierten Ehepaar Rebecca und Peter Harris, beide um die Vierzig, residierend in einem standegemäßen Loft in Soho, Manhattan. Auf einer Hin-und Rückfahrt im Taxi zum Pflichtbesuch einer Party erfährt man sogleich die markanten Umrisse der Lebensumstände des Paares. Rebecca, die Redakteurin eines Kunst-und Kulturmagazins und Peter, der Galerist moderner Kunst,  erwarten den Besuch von Rebeccas kleinem, fast zwanzig Jahre jüngeren Bruder Missy, der gerade vom Meditieren aus Japan zurückgekommen ist, ein Drogenproblem hat und jetzt auch „Irgendwas mit Kunst“ machen will. Peter, aus dessen alleiniger Perspektive die Handlung aufgebaut wird, beschreibt die Stimmungslage selbst: 

Hier sind Peter und seine Frau, seit einundzwanzig Jahren verheiratet, mittlerweile freundschaftlich verbunden, zu Frotzeleien aufgelegt, haben nicht mehr oft Sex, kommen aber auch nicht ohne Sex aus, wie andere lange verheiratete Paare, die er beim Namen nennen könnte, und ja, in einem gewissen Alter kann man sich größere Errungenschaften vorstellen, eine tiefere und unerschütterlichere Zufriedenheit, aber was du für dich geschaffen hast, ist nicht schlecht, überhaupt nicht schlecht. Peter Harris, ein feindseliges Kind, ein furchtbarer Jugendlicher, Gewinner diverser zweiter Preise, ist an diesem gewöhnlichen Augenblick angelangt, hat Beziehungen, ist beschäftigt, wird geliebt, spürt den warmen Atem seiner Frau am Hals, fährt nach Hause.

Die zwanzigjährige Tochter Bea lebt in Boston, bedient in einer Hotelbar, sie distanziert sich vom Kunstbetrieb ihrer Eltern, nach deren Meinung macht sie viel zuwenig aus ihrem Leben.

Als der gutassehende Missy(von Missgeschick: der Nachzügler war eigentlich nicht mehr geplant), richtiger Name Ethan, schließlich in Manhattan eintrifft, erinnert er Peter gleich an die junge Rebecca, wie sie in die Brandung läuft, aus einem weißen Baumwollkleid schlüpft. Und dann beschreibt Cunningham Rebeccas Familie Taylor in Richmond vor zwanzig Jahren mit den drei bezaubernden Töchtern  und eben dem hoffnungsvollen, frühreifen Ethan, der von allen in Beschlag genommen wird, dem die Sorge aller sicher ist. Das soll erklären, dass heute ein verwöhnter, narzisstischer junger Mann vor ihm steht. Und da sind noch die nach dem Auftauchen Missys drängend hochkommenden Erinnerungen an Peters eigenen Bruder Matthew, der homosexuell war und an Aids gestorben ist.

Man ahnte es schon: Nach ersten Alltags-Begegnungen verliebt sich Peter in diesen gutaussehenden, pfiffigen und unsteten Menschen. Aber das darf nicht sein, sein eigener Schwager, er ist verunsichert, kann es sein, wegen einem einzigen Mann schwul zu sein? Leider glaubt der Autor ständig alles psycho-logisch erklären und überhöhen zu müssen,  in Wirklichkeit stiftet er beim Leser eher Verwirrung. Peters Gedanken: Okay, es gibt schwule DNA in meiner Familie… Männer sind großartig (na ja, manche), aber sie sind nicht sexy. Dennoch möchte er diese schlummernde Vollkommenheit berühren…Nur um sie anzufassen, so wie der Gläubige das Gewand eines Heiligen berühren will.

Aber das Ganze ist ja keine Sache von Selbstbeherrschung. Ohnehin wird immer deutlicher, dass es mit dem Selbstwertgefühl Peters nicht  weit her ist, er ist hypochondrisch,  er vertritt bisher nur mittelmäßige Künstler,  möchte einen Starkünstler einer krebskranken Kollegin „schnappen“ und eine spektakuläre Ausstellung ausrichten und parodiert damit selbst seine angeblich so hohen ästhetischen Ideale. Es geht um Geschäftsabschlüsse, das ist die Wahrheit. Und außerdem, haben wir  die ganze aus Schnüren und Alufolie gemachte Kunst nicht ein bisschen satt, die sich übrigens für wahnwitzige Summen verkauft? Sind wir nicht in einen Bereich geraten, in dem Schrott de facto als Schatz behandelt wird?

Als Peter mitbekommt, dass Missy wieder Drogen nimmt, wird die aufgebaute  Welt und die Lebensauffassung Peters brüchig. Er beruhigt sich selbst mit fadenscheinigen Argumenten und Überlegungen: Da ist die heimliche Brüderlichkeit des Ganzen, bei dem es weniger um das Fleisch, als um das Gemeinschaftsgefühl geht…Männer bilden eine eigene Gemeinschaft, vielleicht ist es so einfach. Jetzt kann er Missy lieben, jetzt, da er nicht mehr das Bedürfnis hat, ihn zu beschützen oder zu bewundern.  Da wird es für den Leser schwer bei soviel schwülstiger Naivität, mit Vergnügen weiterzulesen – und er staunt: Deinetwegen schwul, mein Junge, allein auf der Welt, als wärst du ein Geschlecht für dich. In Wirklichkeit fürchtet Peter vor allem die Ächtungen, welche die ach so tolerante Gesellschaft der Künstler und Kunstliebhaber für so einen Fall bereithält.

Ich hatte öfter den Eindruck von einer unglücklich konstruierten Geschichte, in die einfach zuviel hineingepackt wurde. Die Größen der Weltliteratur werden an allen möglichen (und unmöglichen) Stellen heraufbeschworen. Und irgendwie liegt es in der Luft, dass jetzt auch mal auf Thomas Mann angespielt wird.  Als Peter mit Missy im Zug nach Greenwich fährt heißt es: Missy sitzt Peter gegenüber und betrachtet die öde Stadtlandschaft, die vorbeizieht. Der Zauberberg liegt offen, aber ungelesen auf seinem Schoß. Und ein paar Seiten später wird auch Der Tod in Venedig ins Gespräch gebracht. Das Thema stimmt in etwa: Der alternde Künstler, der sich in einen Jungen verliebt. Ja, ich bin ein älterer Typ, auf den ein viel jüngerer Mann eine gewisse Fasziation ausübt, aber Missy ist kein Kind, wie Tadzio es war, und ich bin nicht so fixiert wie Aschenbach…

Es war schon spannend, zu erfahren, wie die verfahrene Kon-stellation enden würde. Die männlichen Hauptpersonen waren mit einer Situation konfrontiert, deren Bewältigung Eigenschaften erforderte, die sie nicht besaßen: Entschlussfähigkeit  und moralische Selbständigkeit. In der vom Leitbild des finanziellen Erfolgs geprägten Gesellschaft siegt oftmals die Statusangst über die zwischenmenschliche Aufrichtigkeit, das hat der Autor Michael Cunningham durchaus treffend gezeigt. Leider gibt es zahlreiche Passagen, die an die Grenze zum Kitsch führen, da spricht dann  Peter von sich selbst als dem „Diener der Schönheit, der an die Schönheit an sich verliebt ist“. Er erinnert sich an schwindelerregende Gefühlswallungen. Es ist das pure, überwältigende und leicht erschreckende Begreifen dessen, was er Schönheit nennt, auch wenn das Wort unzureichend ist. Es ist die kribbelnde Ahnung göttlicher Präsenz, der unbeschreiblichen Perfektion von allem, was es jetzt gibt und in Zukunft geben wird. Wird er begreifen, dass sein bisheriger Horizont sehr begrenzt war? Ich habe in letzter Zeit kaum ein Buch gelesen, in dem ich so zwiespältige Leseerlebnisse hatte, gute und interessante Milieuschilderungen, subtile Gesellschaftsbeobachtungen, dann  andererseits wieder weitschweifige, überladene Abschnitte und das mit der Zeit fast lästige name-dropping, die halbe Weltliteratur wird angerufen,  von Joyce, Melville über Hawthorne bis Arthur Miller, Fitzgerald, Donald Barthelme und Raymond Carver, nur um einige zu nennen. Hier gibt der Autor den „Über-Pynchon“(siehe Pynchon-Beitrag), es  scheint in Mode zu sein bei einigen amerikanischen Autoren.  Es handelt sich ja nicht um echte Intertextualität und so ergibt sich für die Leser(innen)dadurch kein Hinzugewinn.  Dass wir das ganze Geschehen ausschließlich aus der Perspektive Peters serviert bekommen, ist natürlich vom Autor so gewollt, dass die Gedanken und der Bewusstseinsstrom dieser Hauptperson zusätzlich oft noch mit etwas bissigen, zynischen Kommentaren versehen wird, mal vom Autor, mal von Peter selbst, hat mich einige Male sehr gestört. Es fühlt sich an wie eine Bevormundung, als Leser hat man gar keinen Raum mehr für eigene Gedanken und Gefühle. Und die Figur des Missy ist eindeutig überpsychologisiert, er soll den wiedergeborenen Bruder, Tochterersatz für die abtrünnige Bea und auch noch die junge Rebecca darstellen. Auch dass Rebecca gegen Ende des Buches,  in einer Phase, da die Handlung endlich Fahrt aufnimmt, so gut wie gar nicht mehr im Text präsent war, praktisch nur als Stichwort-Geberin,  fand ich schade. So haben wir am Ende bei allen hochfliegenden idealistischen Auslassungen über Kunst und Schönheit  doch nur eine sehr männliche Welt, der die Vielschichtigkeit fehlt, oberflächlichen Glamour, Figuren, die sich nach echten Erlebnissen sehnen, aber in bequemer Gewohnheit und Statusangst erstarrt sich nicht befreien können.

Für Interessierte: Weitere Rezensionen:

Besprechung im Literaturblog Buecherwurmloch

nzz Besprechung(pdf)

Offizielle website des Autors

Cover Michael Cunningham: In die Nacht hinein
Cover Michael Cunningham: In die Nacht hinein

In die Nacht hinein

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

320 Seiten,13,5 x 21,5 cm

ISBN: 978-3-630-87353-4

Verlag: Luchterhand Literaturverlag

9 Kommentare zu „:Michael Cunningham: In die Nacht hinein

  1. Wenn er jetzt nicht den Pulitzerpreis gewonnen hätte, würde ich vermuten, dass er für seinen Creative Writing Job am College regelmäßig irgendwas veröffentlichen muss. Nun ja, danke für die „Warnung“ anyways. Man weiß gute Literatur nur zu schätzen, wenn man mittelmäßige und schlechte gelesen hat, meinte damals meine Englischlehrerin zu uns.

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    1. Liebe almathun, Warnungen möchte ich eigentlich nicht abgeben, dazu hat die Lektüre denn doch zuviel mit persönlichem Lesegeschmack zu tun. Und deine Englischlehrerin hatte sicher recht.Meine Leseleidenschaft wurde auch mit den kleinen Heften vom Wilden Westen geweckt. Heute kennt man aber seine Bloggerkolleg(inn)en, weiß deren Urteil einzuschätzen und holt sich die Empfehlungen an der richtigen Stelle, z.B. bei bloglichter.
      Danke fürs Kommentieren. Viele Grüße
      HS

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    1. Siehe Kommentar oben. Ich fand den Roman einfach schlampig komponiert und geschrieben.Ich glaube, das passiert einem Pulitzer-Preisträger eher als einem Debütanten, der noch nach allen Regeln der Kunst durchgewalkt wird. Für die Creative Writing Schule des Autors wars jedenfalls keine Reklame.
      Beste Grüße.
      HS

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    1. Ja, ich hab bei der Lektüre einige Male an deinen skeptischen Artikel über die Pulitzer-Preisträger der letzten Jahre denken müssen. Aber „Die Stunden“ -ich habs nur in deutsch gelesen-sind schon wesentlich stärker, Cunningham hat aber eine Tendenz zu gravitätischen Erhöhungen, das geht so in Richtung Predigt.
      Danke für den Besuch.
      Beste Grüße.

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      1. Gravitätische Erhöhungen…das erinnert mich ein wenig auch an die Bücher von Richard Powers: Autoren, die ihr ganzes, durchaus erhebliches Wissen, in ihre Bücher meinen packen zu müssen. Das ist auch ein wenig Glänzen mit der eigenen Bildung, nicht unbedingt etwas, was das Lesevergnügen erhöht…

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  2. Ich danke für diesen interessanten Beitrag zu Michael Cunninghams „By Nightfall“ und den spannenden Kommentaren. Ich habe noch nie etwas von diesem Schriftsteller gelesen, also schieb ich das weiter auf die Seite!

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  3. D* schwärmte von „The Hours“, und ich hatte „Mrs Dalloway“ sehr gerne gelesen, weswegen ich es mit Cunningham versuchte, aber bald aufhörte. Vielleicht war es das Nervöse und etwas Überzüchtete, zu dem ich keinen Zugang fand. Aber ich weiß von anderen, die sehr gerne Cunningham gelesen haben. Es ist wohl eher eine Frage des Stils und auch des Milieus.

    Was die schönen Künste betrifft, sind die ja auch der Hintergrund zu Hustvedts „Gleissende Welt“, der nach einigem Anlesen mich auch nicht fesseln konnte. Auch da eine Masse an Anspielungen, übrigens. (Dagegen habe ich mit großem Vergnügen Schneiders „Hunkeler und die Augen des Ödipus“ gelesen, wo er einen witzigen Seitenhieb auf avantgardistische Theaterproduktionen austeilt.)

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